Erinnerung an Ludwig Walters
Zweimal hat man Ludwig Walters im Saal der Borkener Heilig-Geist-Kirche geehrt: das erste Mal am 1. August 1958 anlässlich der Verleihung der Ehrenbürgerurkunde, das zweite Mal fast zehn Jahre später, am 17. Mai 1968, um des zwei Monate zuvor Verstorbenen zu gedenken.
Beide Daten, die sich in diesem Jahr [2008] zum 50. bzw. 40. Mal jähren, veranlassten den Borkener Heimatverein, einen geselligen Abend mit Gedichten und Prosa-Texten aus der Feder von Ludwig Walters in sein Jahresprogramm aufzunehmen. Den passenden Hintergrund zur Gedenkfeier für Prof. Ludwig Walters im damaligen Borkener Ratssaal dafür bildete der Wandteppich mit dem Bild vom „Jaohresboom“, den Lydia Jungmann, Künstlerin aus Essen, in den Jahren 1953 und 1954 auf Schloss Raesfeld anfertigte.(1) Bürgermeister Josef Hellmann überreicht Dr. Ludwig Walters am 1. August 1958 die Urkunde über seine Ehrenbürgerschaft in seiner Heimatstadt Borken.
Die Moderation des Abends lag in den Händen von Rudolf Koormann, der mit Anni Gördes, Maria Gedding und Alfons Thesing versierte Kenner des Plattdeutschen zur Seite hatte. Rosemarie Heselhaus aus Raesfeld sorgte mit ihrem Akkordeon für einen abwechslungsreichen musikalischen Rahmen des Abends, in dessen Verlauf Bernhard Scholtholt und Paul Wilgenbus über die ganz private Seite ihres Großonkels plauderten.
Bernhard Ludwig Walters wurde am 2. Februar (Lichtmess) 1875 geboren und am gleichen Tag getauft. Seine Wiege stand in einem kleinen Haus in der Vennestraße, aus dem durch Einheirat des Tischlermeisters Scholtholt aus Raesfeld später das gleichnamige Möbelhaus hervorging. Der um sieben Jahre ältere Bruder Heinrich sollte sich später große Verdienste um die Heimatpflege erwerben. Die Eltern des Jungen, der das zweitjüngste von neun Kindern war und sich wegen seines Geburtsdatums selbst gern als „Lechtmissen“ bezeichnete, waren der Tischlermeister Matthias Bernhard Walters und Elisabeth Rave, die aus Ramsdorf stammte. Die Familie Walters war eine Generation zuvor, im Jahr Februar 1825, in Borken ansässig geworden, als Johann Henrich Walters, ein 1800 in Olfen geborener Tischler, Elisabeth Eilting, Tochter des Schreinermeisters Eilting, heiratete.
Im Bereich der südlichen Altstadt, die von der Vennestraße in Nord-Süd-Richtung durchzogen wurde, muss der kleine Ludwig viele Eindrücke aufgesogen haben, ähnlich wie die (fast auf den Tag genau) 20 Jahre zuvor in unmittelbarer Nachbarschaft zum Haus Walters geborene Julia Koppers. Denn in den Prosatexten, die er Jahre später in Plattdeutsch verfasste, erwähnte er immer wieder Örtlichkeiten und Ereignisse von dort, vor allem Personen, die mit besonderen Gewohnheiten und Auffälligkeiten, ja sogar mancher Schrulligkeit behaftet waren.
An den Besuch der Volksschule und der Rektoratschule – letzteren finanzierte er durch die Erteilung von Nachhilfeunterricht – schloss sich für den damals 14-Jährigen die Schulzeit am Paulinum in Münster an. Hier wohnte er bei einem Bäcker; die Miete erwirtschaftete er durch das morgendliche Austragen von Brötchen. Das Abitur legte Walters 1894 ab. Danach blieb er in Münster, wo er Germanistik und Geschichte studierte. Den Abschluss seines Studiums bildete 1901 die Promotion. Der Titel seiner Doktorarbeit lautete: „Andreas von Escobar, ein Vertreter der konziliaren Theorie am Anfang des 15. Jahrhunderts“.
Ausgestattet mit dem Doktorhut, absolvierte Walters die Referendariats- und Probejahre in Herford und Herne, so dass er anschließend geeignet war für das „höhere Lehramt“, wie man damals das :Lehramt an Gymnasien nannte. Den weitaus größeren Teil seiner Tätigkeit als Oberlehrer und Studienrat jedoch verbrachte er dann in Montabaur, der Kreisstadt im Kannebäcker Land, einem Teil des Westerwaldes. Über die Schule hinaus interessierte er sich auch für „Land und Leute“. Er wurde einer der besten Kenner von Geschichte und Landschaft zwischen Sieg und Lahn.
Im Jahr 1910 heiratete Walters Anna Holly, die Tochter eines Hoteliers. Wie es im Kaiserreich noch üblich war, verlieh man ihm 1916, nach einigen Dienstjahren als Gymnasiallehrer, den Titel „Professor“, den er Zeit seines Lebens nicht mehr verlieren sollte. Zwanzig Jahre später wurde er wegen eines Augenleidens vorzeitig in den Ruhestand versetzt.
Am 12. März 1968 verstarb er 93-jährig in Montabaur. An seiner Beisetzung auf dem dortigen Friedhof nahm auch eine offizielle Delegation aus Borken teil, zu der Vertreter der Stadt, des Heimatvereins sowie des Schützenvereins gehörten. Die Grabrede für den Heimatverein hielt Schatzmeister Josef Siebelt. Die Zusammensetzung der Delegation ergab sich nicht von ungefähr. Denn zehn Jahre zuvor, am 1. August 1958, dem Vorabend des Schützenfestes, war Ludwig Walters auf Antrag des Heimatvereins, der damit einer Anregung des Schützenvereins gefolgt war, der Ehrenbürgerbrief der Stadt Borken verliehen worden, für seine, um die Worte der in Plattdeutsch verfassten Urkunde wiederzugeben, „Mühe und Arbeit, mit der eine Vielzahl an Gedichten und Liedtexten geschrieben und dadurch ein Stück Alt-Borken festgehalten“ hat.
Dass aus Walters’ Feder auch einige Prosatexte über dies und das in und aus Alt-Borken stammen, wird angesichts der gern rezitierten Gedichte vergessen. Es waren mehr oder weniger lange – stellenweise auch langatmige – „Vertellstückskes“ vorwiegend über Borkener Originale aus dem 19. Jahrhundert, die Walters persönlich oder vom Hörensagen her kannte.
Veröffentlicht wurden die Prosatexte in den Heimatkalendern der 1920er, 1930er und 1950er Jahre. Alle erwecken beim Lesen den Eindruck, als handle es sich um die schriftliche Abfassung von „Plaudereien am Kamin“. Eine nicht abwegige Vermutung, da Walters sich im Rahmen seiner regelmäßigen Besuche in Borken gern mit alten Freunden traf und über vergangene Zeiten plauderte.
Zu den in Plattdeutsch verfassten Texten kamen noch einige Abhandlungen in hochdeutscher Sprache, in denen es um das Westmünsterländische Platt im Allgemeinen und über das Borkener Platt im Besonderen ging, wie es sich zu Lebzeiten Walters u.a. in Sprichwörtern, Redensarten und Reimen erhalten hatte – oder auch nicht. Sein Plattdeutsch, das er in einer ihm eigenen Schriftsprache aufzuzeichnen wusste, kannte nämlich noch Wörter und Redewendungen, die schon, wie es 1968 im Nachruf hieß, der nächst jüngeren Generation nicht mehr geläufig waren.
Die Bandbreite von Stimmungen, in denen Walters seine Gedichte verfasste, reicht von pathetisch-heimatliebend, über ansatzweise traurig und ernst, nachdenklich machend und heiter-besinnlich bis hin zu behutsam-deftig. Nicht selten scheint er den Zeigefinger zu erheben, als wolle er sagen: „Dat kümp daorvan.“.
Besonders in den Gedichten mit heiter-besinnlichem Charakter führt er seine Zuhörer und Leser gern auf einen Spannungsbogen, den er langsam ansteigen lässt, zu einem Höhepunkt führt und mit einer Pointe abrupt beendet. Sie verleitet zunächst zum Lachen, nicht selten aber auch zum Nachdenken. Erstaunlich ist, wie oft Walters sich des Kindermundes bedient, um die oben genannten Pointen zu setzen und wirken zu lassen, um durch Kindermund Erwachsene in ihrem Denken und Tun zu entlarven. Seine Gedichte und Plaudereien sind Belege einer tiefen persönlichen Heimatverbundenheit, um nicht zu sagen Heimatliebe, die für die 1920er Jahre, d.h. für eine u.a. auch „heimatbewegte Zeit“ allgemein typisch waren, darüber hinaus in ihm selbst aber nie nachgelassen haben.
Schon 1966 begann der Borkener Heimatverein, den Großteil von Gedichten und Texten zusammenzutragen und zur Veröffentlichung vorzubereiten. Es verging jedoch noch einige Zeit – während der Ludwig Walters verstarb und man seiner bei der oben erwähnten Veranstaltung ehrend gedachte, bis das Bändchen 1969 erscheinen konnte.
Bereits 1958 jedoch war Ludwig Walters den damaligen Ratsherren Wert genug, Ehrenbürger von Borken zu werden. Eine Ehre, die nicht vielen Personen zuteil wurde.(2) Die Verleihung der Ehrenbürgerurkunde im Saal der Heilig-Geist-Kirche, das „spektakuläre Rahmenprogramm“ während des darauf folgenden Schützenfestes und die Berichterstattung in der Borkener Zeitung waren beachtlich.
Rudolf Koormann (2008)
aus: HEIMATBRIEF. Hg. vom Kreis Borken, Nr. 201 / Juli / August 2008, S. 4-5
Anmerkungen:
(1) Für die Beschriftung des großen Spruchbandes wählte die Künstlerin einen Spruch Ludwig von Walters, den sie jedoch mit einem kleinen „sprachlichen“ Fehler wiedergegeben hat: DEN JAOHRESBOOM GIW UNDERDACK, / NE MONAT BLÖIT AN JEDEM TACK. / SO GEHT DAT LÄWEN LICHT UN SCHWAOR / IN BORKEN STÄNS DÖRT GANSSE JAOHR. Bei Ratssitzungen und kulturellen Veranstaltungen während der 1950er bis 1980er Jahre schmückte der Teppich die Stirnwand des großen Saales in der Heilig-Geist-Kirche.
(2) Vor ihm waren es bereits Landrat Wilhelm Buchholtz (1902), Pfarrdechant Johannes Erpenbeck (1904), Bürgermeister Gustav Mettin (1912), Stadtverordneter Josef Bierbaum (1926) und Landrat Stephan Graf von Spee (1929). Nach ihm sollte es noch bis zu Propst August Pricking dauern, abgesehen von den beiden Gemener Ehrenbürgern Dr. Emil Kubisch (1961) und Pfarrer Wilhelm Grothues (1964).
Rudolf Koormann (2008)
Literatur:
Koormann, Rudolf: Prof. Dr. Ludwig Walters (1875-1968). Plattdeutscher Autor, in: Westmünsterländische Biografien 3. Hg. von Ludger Kremer, Erhard Mietzner und Timothy Sodmann, Vreden 2018, S. 205-210 (Geschichte im Westmünsterland. Beiträge der Gesellschaft für historische Landeskunde des westlichen Münsterlandes e.V. Bd. 9)
Kremer, Ludger: Das westmünsterländische Sandplatt (Westfälische Mundarten, 2). Münster 2018, S. 84-85.
Prof. Dr. Ludwig Walters
Bürgermeister Hellmann überreicht Prof. Dr. Walters die Ehrenbürger-Urkunde (1958).
Titelblatt der Dissertation von Ludwig Walters (Münster 1901).