Die Tremse
Ein Bericht aus dem Borkener Wochenblatt 1912
Ein Bericht aus dem Borkener Wochenblatt 1912
Der folgende Bericht ist am 2. Mai 1912 in den Lokalnachrichten des Borkener Wochenblatts erschienen. Die Schilderungen und Erklärungen zur Tremsenfeier sind ebenso anschaulich wie detailliert.
Borken, 1. Mai. Die Tremse. Nur der Einheimische weiß, was er unter Tremse versteht. Der Fremde, Nichteingeweihte versteht darunter die blaue Blume, die unsere Roggenfelder ziert und kurzweg auch mit Kornblume bezeichnet ist. Die hier gemeinte Tremse ist ein Gestell, welches man am besten mit einem der früher modernen „Reifröcke“ oder „Krinoline“ vergleichen kann. Sie stellt ein tonnenartiges von Reifen gefügtes oben kegelförmig engauslaufendes und unten offenes, vielleicht ½ – 1 Meter Durchmesser weites Gestell dar. Die Reifen sind mit Wolle, buntem Papier und sonstigem Zierrat umwunden, und die Verbindungsfäden sind mit bunten Papierhülsen, in früherer Zeit mit „Pfeifenstielchen“ und mit Eierschalen geschmückt. Oben innerhalb der Tremse hängt eine aus Watte gefertigte Taube.
Wer nun am 1. Mai unsere Straßen durchwandert, sieht auf dem Marktplatze [heute Kirchplatz] und in vielen Straßen hoch über sich eine solche Tremse in der Luft schweben. Es sind Seile über die Straßen gespannt, in deren Mitte die Tremse befestigt ist und den ganzen Monat hängen bleibt, d.h., wenn nicht böse Buben dieselbe mit ihren Wurfgeschossen zerzaust oder herunterbombardiert haben.
Wer nun seinen Spaziergang um 3-5 Uhr nachmittags macht, der findet den Boden unter der Tremse mit Grün und Blumen bestreut. Lange Tische sind mitten auf dem Markt und auf den Straßen aufgestellt, und rund herum eine fröhliche Kinderschaar von 2 bis 13 Jahren. Jeder hat seinen Stuhl und seine Tasse mitgebracht. Die Kleinsten erwartungsvoll, die Größeren ordnend und bedienend, aber alle lachend und scherzend, bis endlich die „Bäse“, einige der ältesten Schulmädchen der betreffenden Nachbarschaft, mit den großen Kaffeekanne erscheinen. Allmählich werden all die kleinen (Mündchen) etwas ruhiger, indem sie sich an dem von den „Bäsen“ herumgereichten Teekuchen und Backwerk gütlich tun. Eine umgeworfene Tasse, ein zu wenig erhaltenes Stückchen Zucker oder ein sonstiges kleines Malheur [Unglück] gibt hier und da einem der kleinen Festteilnehmer Veranlassung, das (Mündchen) etwas in die Breite zu ziehen, ohne jedoch den allgemeinen Frohsinn zu stören.
Ist der Kaffee beendigt, gibt es eine neue Auflage, bestehend in Limonade. Da haben die Bäse vorsorglich den Saft flaschenweise eingekauft und in Emailleeimern das Getränk trankfertig zurecht gebraut. Ist endlich diese „Kneiperei“ vorüber, verschwindet in kurzer Zeit das Ganze, wie es gekommen. Jeder bringt Stuhl und Tasse nach Haus, die Bäse besorgen das Fortschaffen der Tische und nur noch die zertretenen Blumen zeigen die Stelle an, wo vor Kurzem das eigenartige Durcheinander sich abspielte.
Vielleicht würde dies Auseinandergehen länger dauern, aber für die „Großen“ bleibt noch ein integrierender [wichtiger] Teil der Tremsefeier abzuwickeln übrig. Es ziehen nämlich die „Großen“ hinaus in Busch und Wiese. Die Knaben den Tannenbaum, den sogenannten Maibaum zu holen und die Mädchen, um Blumen zu pflücken. Beim Dunkelwerden ist meistens der Maibaum schon in einer Cementtonne mit Steinen verankert und mit Papierlaternen und Lampions geschmückt, unter der Tremse aufgestellt.
Jetzt beginnt eine zweite Feier, die sich den ganzen Mai hindurch wiederholt. Die kleinen Kaffeetrinker sind meistens zur Ruhe gegangen, dafür nehmen an diesem Teil der Tremsefeier Männlein und Weiblein bis zu den zwanziger [Jahren] hinauf Teil. Unter Gesang althergebrachter Lieder wird in großen Ringelreigen der beleuchtete Baum umkreist, und hie und da erhellt eine bengalische Flamme die fröhliche Schaar.
Über das Alter dieser Tremsefeier und deren Bedeutung herrscht unter den Forschern noch immer keine Klarheit, umsomehr, weil man eine Feier in dieser Form in unseren nächsten Nachbarstädten nicht kennt. Es ist eine spezifisch Borkener Feier, die vielleicht an die auch anderwärts veranstalteten Mai- oder auch Pfingstfeiern erinnert. Die eigentliche „Tremse“ ist entschieden Borkener Eigentum, und liegt ihr Alter bestimmt Hunderte von Jahren zurück.
Heute, wo man überall bemüht ist, alte Gebräuche beizubehalten, resp. [bzw.] neu aufleben zu lassen, wird man hoffentlich diesen Brauch pflegen, der in den Herzen der Großväter und Mütter die Erinnerung an die fröhliche Kindheit wieder wachruft.
Aus: Borkener Wochenblatt, 2. Mai 1912
(Hinweis: Der Text ist wörtlich übernommen. An wenigen Stellen sind Erklärungen eingefügt.)
In seinem Bericht über die Maifeier von 1911 fasst das Borkener Wochenblatt zusammen, was zwischen dem Tremse-Aufziehen und dem abendlichen Tanz passiert.
Punkt 12 Uhr wird überall die Tremse aufgezogen und unter ihr versammeln sich um 4 Uhr die Kinder zum üblichen Kaffeetrinken. Jedes Kind bringt seine Tasse mit, für Stühle sorgt die Nachbarschaft und die Bewirtung besorgen die größeren, „Die Bäse”. Abends kehren fröhlich singend ganze Kinderscharen aus Flur und Wald zurück, die kleinen Körbe mit Laub und Feldblumen gefüllt. Und nach der Maiandacht, da gibt es Leben auf den Straßen, der Maibaum wird herangeholt, mit bunten Laternen geschmückt, und um ihn herum tanzt Groß und Klein beim Klange der alten bekannten Lieder, bis die Kerzen erloschen sind.
Borkener Wochenblatt, 3.5.1911