Kindheit zwischen Glück und Krieg
Das Geschäft Kuhmann
Alles fing an mit Großvater Josef Kuhmann, der Unternehmergeist entwickelte und draußen vor der Stadt nicht nur Milchhandel betrieb, sondern auch ein kleines Lebensmittelgeschäft am Maaskamp aufbaute. Hier gab es zum Beispiel auch besonderen Käse, der aus Münster bezogen wurde.
Links steht Großvater Josef Kuhmann und rechts Vater Heinrich Kuhmann (*1907), die stolz ihre großen Milchkannen zeigen. Den Karren zog das Pferd Liese.
Später wurde aus dem Pferdewagen ein modernes Kraftfahrzeug:
Um 1940/41 wurde mit diesem Wagen die Milch ausgeliefert. Nach der Einberufung des Vaters zum Kriegsdienst im Herbst 1939 musste die Mutter Rosa (*1905) zusammen mit dem tüchtigen Vetter Rudi Kuhmann die Milch aus der Borkener Central-Molkerei fahren. Die Aufschrift auf dem Heck lautet Molkerei Erzeugnisse und die Werbung auf der Seite Trinkt Milch!
Als Anneliese Göckener Ende 1932 geboren wurde, war die kleine Welt am Borkener Stadtrand in der Nachbarschaft Heidener Straße von 1901 noch in Ordnung.
Aus der Kindheit ist ihr auch das Spiel an und in der Wasserstiege in guter Erinnerung. Das Quellwasser, das unter dem heutigen Bahnübergang an die Oberfläche kam und Richtung Borkener Aa strömte, lud auch zu besonderen Wettspielen ein: Wer am längsten im eiskalten Wasser stehen konnte, bekam einen Stichling oder ein Rotauge aus dem Bach. Sogar trinken konnten die Kinder das klare, erfrischende Wasser.
Mit sechs Jahren begann der Schulbesuch. Die zweiklassige Mädchen-Volksschule lag direkt an der Johanniskirche auf dem Gelände des früheren Kapuzinerklosters, ebenso die Jungen-Volksschule.
Im Herbst 1939 wurde alles anders: Annelieses Vater gehörte zu den ersten Borkenern, die zum Kriegsdienst einberufen wurden. Von heute auf morgen hatte die Mutter allein für ihre vier kleinen Kinder und den Großvater zu sorgen. Ohne die Hilfe des Vetters Rudi hätte sie das Milch-Geschäft nicht weiterführen können.
Für Anneliese war der Krieg zunächst ganz fern, dann überflogen immer häufiger die „Jabos“ der Engländer Borken auf dem Weg ins Industriegebiet an der Ruhr und wieder zurück. Immer häufiger mussten die Kinder den Klassenraum verlassen und in den Schutzkeller.
Das war auch nachmittags wichtig, wenn Güterzüge mit Waffenlieferungen aus dem Ruhrgebiet in den Borkener Bahnhof einfuhren: Auf einmal waren die Jabos da und beschossen die Züge. Wer nicht rechtzeitig vom Bahndamm flüchtete, war in höchster Lebensgefahr.
Ein besonderes Erlebnis hatte sie mit den 16 und teilweise sogar nur 14 Jahre alten Jungen, die eine „Flak“ (Flugabwehr-Kanone) in der Nähe bedienen mussten. Diese seien vor den heranfliegenden Bombern geflüchtet und hätten sich bei Kuhmann an der Wasserstiege versteckt. Eines Tages sei ein Soldat bei der Mutter erschienen und habe sie gefagt, ob sie junge Flakhelfer gesehen habe. Anneliese wollte schon eifrig antworten, als sie gerade noch rechtzeitig den Fuß ihrer Mutter spürte. Diese verneinte und rettete dadurch die Jungen.
Nachkriegszeit – Aufbauzeit
Von der Eisdiele zur Gaststätte
Nach der späten Rückkehr des Vaters aus russischer Kriegsgefangenschaft wurde von Heinrich und Rosa Kuhmann nicht nur der Milchhandel fortgesetzt, sondern auch ein neues Standbein aufgebaut: die Eisdiele neben dem Wohn- und Geschäftshaus.
Blick vom Wohnhaus in den Garten. Das Eis wurde im Geschäft hergestellt. Später wurden Außenwände eingebaut und so ein ganzjährig genutzter Saal geschaffen.
Zwar gab es anfangs nur Vanille- und Schoko-Eis, doch bald erfreute sich auch der Erdbeerbecher größter Beliebtheit bei den Gästen.
Mit der Einrichtung der Hendrik-de-Wienen-Kaserne 1957 hatte die Milchhandlung einen neuen Großkunden, aber die Molkerei übte Druck auf ihren Wiederverkäufer aus, so dass sich das Geschäft bald kaum noch lohnte. Die doppelwandigen Milchbehälter mussten täglich sorgfältig von Hand gereinigt werden, was viel Arbeit machte.
Um 1960 holte sich ein italienischer „Gastarbeiter“ Milch von Kuhmann und stellte selbst Eis her, und zwar mit so großem Erfolg, dass sich die Eisdiele der Kuhmanns nicht mehr lohnte. Sie wurde von Schwiegersohn Rudi Göckener und seiner jungen Frau Anneliese zur „Gaststätte Göckener-Kuhmann“ umgebaut. Von Anfang an war sie der ganze Stolz von Vater Heinrich Kuhmann:
Die neue Gaststätte Göckener-Kuhmann (1960-1997).
Wirt Rudi Göckener hatte bald alle Hände voll zu tun:
Damals stand das Fass noch auf der Theke und das Bier wurde mit „Stangeneis“ gekühlt.
Bis in die 50er Jahre war Vater Heinrich Kuhmann in russischer Kriegsgefangenschaft und musste Zwangsarbeit in sibirischen Bergwerken verrichten, die seine Gesundheit schwer beeinträchtigte. Trotzdem war seine glückliche Heimkehr eine Erleichterung für die ganze Familie.
Nach ihrer Ausbildung zur Schneiderin heiratete Anneliese Kuhmann 1949 Rudolf Göckener. Sie bauten bald ein eigenes Haus am Doktorskamp, nahe den Kuhmanns, und gründeten eine Familie. Eigentlich wollte Anneliese Schneiderin werden, aber der elterliche Betrieb brauchte jede Kraft.
In der neuen Gaststätte Göckener-Kuhmann war Rudi Göckener auch Juniorchef hinter der Theke.
Immer mehr Gäste sorgten für einen ausgefüllten 18-Stunden-Tag der ganzen Familie.
Die Pokale über den Gläserschränken deuten an, dass bereits mehrere Sportvereine bei Göckener-Kuhmann eine Heimat gefunden hatten.
Eine große Glocke verkündete Lokalrunden – ein gern gehörtes Geräusch, wie man vermuten darf:
Viel mehr als eine Gaststätte
Der Milchhandel lohnte sich nicht mehr, seitdem die beliebte Gastsstätte alle Kräfte in Anspruch nahm. Anneliese Göckener erzählt gern von der Gruppe Männer um Jo Bussmann, die eines Tages vorbei kamen: Sie seien auf der Suche nach der schönsten Gaststätte in Borken für einen Stammtisch und wollten hier beginnen. Es dauerte nicht lang, und sie waren wieder da – und blieben. Übrigens hatte Anneliese Göckener bei Mutter Bussmann die Schneiderei gelernt.
Wie die Gaststätte zu ihrem Namen „Hafenbar“ kam, ist schnell erzählt: Eines Tages sei einer Ihrer Stammgäste von einem Spanien-Urlaub („mit dem Auto“) heimgekehrt und habe ein großes Modell-Segelschiff auf den Tresen gestellt. Von da an habe die Gaststätte (nur noch) „Hafenbar“ geheißen. Alle anderen Gerüchte, die mit dem nahen Bach zu tun haben, sind frei erfunden.
Es wurde viel gefeiert in der „Hafenbar“, zum Beispiel auch von den Volleyballerinnen:
Wie die Jubiläumsfahne der Nachbarschaft Heidener Straße im Hintergrund des Bildes zeigt, gehörte auch die Nachbarschaft zu den treuesten Gästen des Hauses. Geselligkeit stand von Anfang an im Vordergrund.
Treue Mitarbeiter hatte Anneliese Göckener zum Glück auch:
Vetter Jupp Kuhmann arbeitete oft als Kellner mit (im Bild rechts).
Mathilde Brockhoff aus Raesfeld war die gute Seele des Hauses.
Als ihr Mann schon sehr früh starb, ging es für Anneliese Göckener und die „Hafenbar“ um alles oder nichts: Sie entschied sich für die Weiterführung der Gaststätte, wohl auch, weil sie die Zuneigung der Gäste als große Ermutigung empfand.
65. Geburtstag von Anneliese Göckener.
Aber die viele Arbeit zehrte auch an ihren Kräften, so dass sie 1997 die Gaststätte an ihre Tochter Barbara, allgemein nur „Bärbel“ genannt, übergab.
Text: B. Fritsch
Fotos: A. Göckener