„Die Maifeier ist seit dem vorigen Jahr wieder zu neuem Leben erwacht“, hieß es im Jahr 1920 in der Zeitschrift Westmünsterland. Gemeint war die Maitremse in Borken, die in dem dann folgenden Jahrzehnt eine „Blüte“ erfuhr. Das jedenfalls geht aus den Artikeln der Borkener Zeitung hervor, die den Brauch von Ende April bis Anfang Mai eines jeden Jahres begleiteten – mal mehr, mal weniger ausführlich. Damals ahnte noch niemand, dass die örtlichen Nationalsozialisten den Brauch in den 1930er Jahren für ihre Ideologie vereinnahmen, dass aber die Veranstaltungen zum „Tag der nationalen Arbeit“, wie der „1. Mai“ von 1933 an genannt wurde, die äußere Feier der Tremse in den Hintergrund drängten sollten.
Während des Ersten Weltkrieges war die Maitremse vier Jahre lang nicht gefeiert worden, zum Bedauern der Borkener Kinder, aber auch der Zeitung. Die hatte dem Brauch 1871, als sie noch „Borkener Kreisblatt“ hieß, einen kurzen Artikel gewidmet, in dem sie auch die Frage nach der Herkunft des Wortes „Tremse“ stellte, das dem nirgendwo sonst zu findenden „lokalen Gebrauch“ seinen Namen gegeben habe, und die blaue Kornblume als dessen etymologischen Ursprung ausmachte. Zugleich stellte sie an ihre Leser die Frage, in welcher Beziehung denn die Borkener „Tremse“ zu der genannten Blume stehe. Eine Antwort scheint bei der Redaktion nie eingegangen zu sein, soweit sich das in dem z. T. dem lückenhaften Archivbestand nachweisen lässt.
Erst 1897 befasste sich die Zeitung wieder ausführlich mit der Tremse. Sie wies auf die Gefahr hin, dass der Brauch in Vergessenheit geraten könne. „Das Spiel, das Jahrhunderte alt ist und einzig nur noch in Borken, wenn auch dürftig, gefeiert wird, darf nicht zu Grunde gehen“, hieß es wörtlich. Die Erwachsenen seien gefordert, durch einen kleinen Geldbeitrag die Finanzierung der Tremsefeier zu zu sichern. Der Satz richtete sich vor allem an die Anlieger des damaligen Marktplatzes, wo „früher die schönste und größte Tremse“ gehangen habe. Keinesfalls dürfe „der Markplatz in diesem Jahr ohne Tremse sein“, so der eindringliche Appell des Redakteurs. Und er bleib nicht ohne Wirkung, wie zwei Fotos zeigen, die um 1900 entstanden sind und ein fast identisches Bild von der Feier auf dem Marktplatz wiedergeben.
Die blaue Kornblume, in Nordwestdeutschland auch „Tremisse“, „Trems“ oder „Tremese“ genannt, war in der Tat die Namensgeberin für das glocken- oder krinolinenartige bunte Gebilde über den Straßen sowie für den gesamten Brauch. Dies bestätigen die allerältesten Zeugnisse, die noch weit über den Artikel des Borkener Kreisblattes von 1871 hinausreichen, aber zwei Eigentümlichkeiten aufweisen: Sie stammen (leider) nicht aus Borken und belegen die Existenz eines „Tremse“-Brauchtums z.T. auch zur Erntezeit:
- In Bocholt wurde 1432 das Schneiden und Drehen von Weidenzweigen bezahlt, die am Bartholomäustag (24. August) zum Aufhängen des „Tremes“ über die Straße gespannt werden sollten.
- 1575 wurde in Soest das Tragen von „Tremsen“ oder „Trimpsen“ erwähnt, bei dem junge Leute Kornblumensträuße von Haus zu Haus trugen, als Gegengabe Eier, Mehl und Milch erbaten und selbiges in Form von Pfannkuchen gemeinschaftlich verzehrten. Da solches „Tremsenessen“ allzu oft in unliebsame „Gelage“ ausartete, sahen sich die Stadtoberen mehrmals gezwungen, den Brauch zu verbieten. Das Verbot richtete sich aber auch gegen eine unschöne Begleiterscheinung des Blumensammelns: Die jungen Leute hinterließen nämlich niedergetretene Kornfelder.
Ein der Borkener Tremse in seiner Ausgestaltung sehr nahe kommender Brauch war das „Tremsenhängen“ in Dülmen, das aber schon 1592 neben Fastnachtsspielen und „Rosenkranztragen“ (?) verboten wurde. Wörtlich hieß es damals, dass die drei Bräuche „den Einwohnern oder Gilden nicht gestattet, sondern ganz und gar abgeschafft werden“.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts begann auch die Volkskunde sich für den Brauch zu interessieren. So verglich Joseph Wormstall (1829-1907), Altphilologe in Münster, die Tremse 1876 mit einem „großen Baldachin in Form eines Kronleuchters oder … einer Krinoline“. Er beschrieb ihr Äußeres als „Gestell von Drähten und Bindfäden, an welche hunderte von Pfeifenstielchen, holländischen Tonpfeifen entnommen, … bunte Läppchen, farbiges Papier, Blumen und Eierschalen angereiht werden“. Dabei vergaß er auch nicht „de Duve“, den aus Torf oder Holz geschnitzten Vogel in der Mitte des bunten Gebildes, das er als „Frühlingssymbol“ oder „personifizierten Mai“ deutete; die Taube sah er als den „verchristlichten Pfingstvogel“.
Selbst aus Arnsberg stammend, sah Wormstall eine Verwandtschaft zwischen der Borkener Tremse und einem Brauch in seiner Heimat: Dort hätten Kinder noch im frühen 19. Jahrhundert „eine große, schön angezogene, mit Schleifen und Bändern gezierte“ Puppe, die „Triemse“, von Hof zu Hof getragen und dabei einen Heischespruch aufgesagt. Die Belohnung für das anschließende Entschleiern und Zeigen der Puppe sei eine Portion Eier gewesen, die anschließend gemeinsam verzehrt worden seien.
Wormstalls Vermutung, das Wort „Tremse“ stamme aus dem angelsächsischen Sprachraum und bezeichne den „grasreichen Mai“ wie auch die „Drei-Melke-Zeit“ („Trimilci“), konnte sich allerdings nicht durchsetzen, und so blieb es bis heute bei der Erklärung im Borkener Kreisblatt aus dem Jahr 1871.
Die Kinder hat eine Erklärung des Brauches nie interessiert. Für sie zählten die Bewirtung unter der Tremse und das Spielen um den illuminierten Maibaum zu den (wenigen) Höhepunkten im Jahreslauf. So wird es auch Julia Schily-Koppers erlebt haben, die 1855 geboren wurde und als Kind in der Vennestraße gewohnt hat. Dort siedelte sie, inzwischen 81 Jahre alt geworden, 1936 ihr Gemälde von der Maitremse an. Wenn nicht allzu viel künstlerische Freiheit eingeflossen sind, wäre das Werk die älteste bildliche Darstellung des Borkener Brauches.
Ein Jahr jünger als Julia Schily-Koppers war Andreas Grunenberg. Er wurde in Münster geboren, als Sohn eines königlichen Rentmeisters, wuchs aber in Borken auf, wo er die Maitremse mitgefeiert haben dürfte. In seinem 1918 in plattdeutscher Sprache erschienenen Buch „Mien Duorp“ widmete er dem zweiten wichtigen Element der Tremse, dem Maibaum, ein eigenes Kapitel. Darin führte er die Leser in seine Kindheit zurück und beschrieb mit viel Fantasie die Erlebnisse einiger Jungen beim „Organisieren“ eines solchen Maibaumes. Dabei kam es, wie es kommen musste: Die Tat wurde aufgedeckt, und der bestohlene Bauer verlangte die „schuldige Genugtuung“, die im Bezahlen des Baumes und ein Paar Ohrfeigen bestand. Nach dem Motto „Wer zuletzt lacht …“ jedoch rächten sich die Jungen, indem sie sich heimlich im Kreis auf den Brunnenrand stellten und das Brunnenwasser „verunreinigten“, so dass die Bauersfrau anderntags über den „eigenartigen Geschmack des Kaffees“ klagte.
Rudolf Koormann (April 2020)
Die Tremse zu Borken. Der schöne Mai ist da, und die Kinder unserer Stadt tanzen des Abends nach alter Sitte unter der „Tremse“ unter welcher sie auch am ersten Maitage auf öffentlicher Straße Kaffee trinken. Da dieser lokale Brauch sich nirgendwo anders vorfindet, so wäre es wünschenswerth, an dieser Stelle seinen Ursprung und seine Bedeutung zu erfahren. Ebenso interessant würde es sein, die etymologische Bedeutung des Wortes „Tremse“ nachzuweisen, da dieses in der deutschen Sprache (auch Tremisse, Trämse) nur die blaue Kornblume, Cyane bedeutet, und von dem altsassischen Worte „trim“ gleich „schmuck“ herkommt. In welcher Beziehung steht aber die Borkener „Tremse“ zu dieser Blume? C. (Borkener Kreisblatt, 6.5.1871)
Gruppenfoto während der Tremsenfeier auf dem alten Marktplatz (heute Kirchplatz) um 1900. Im Hintergrund links der Marktbrunnen mit der neuen de Wienen-Statue und in der Mitte das neu erbaute Kriegerdenkmal. (Foto: Stadtarchiv Borken)
Typisches Gruppenfoto in der Vennestraße (Nachbarschaft am eisernen Brunnen 1919). Es zeigt die gleiche Situation wie Julia Schily-Koppers’ Gemälde von 1936. (Foto: Stadtarchiv Borken)
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