„Türen schließen, der Zug fährt ab!“
Erinnerungen an die Dampfeisenbahn
Erinnerungen an die Dampfeisenbahn
Die ersten Begegnungen mit der Eisenbahn waren nicht im Zug, sondern vor der geschlossenen Schranke am Dülmener Weg. Das war in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als das Münsterland von der britischen Armee besetzt war. Da kamen Transportzüge der Tommys – so nannte man unsere Besatzer – vorbei. Die Tommys warfen schon mal Schokolade und andere Süßigkeiten aus dem Fenster. Wer schnell genug an der Schranke war, hatte eventuell Glück etwas zu fangen. Ich hatte nie Glück, weil ich zu weit entfernt von der Schranke wohnte. Man gab mir aber schon mal was ab.
Mit sieben Jahren bin ich das erste Mal mit dem Zug gefahren, und zwar mit meiner Mutter zum Augenarzt nach Dorsten.
Das war ein großes Abenteuer. Zwischen Hervest-Dorsten und Dorsten waren nämlich die Brücken über die Lippe und den Kanal noch zerstört. Da mußte man aussteigen und zu Fuß über die schmalen Behelfsbrücken gehen, um an der anderen Seite in einen anderen Zug wieder einzusteigen. Der Fußmarsch zum Augenarzt wird mir ewig in Erinnerung bleiben. Ich wollte nie wieder zum Augenarzt.
Mit meiner Schulklasse, mit unserem Gotthard, so hieß dieser Lehrer mit Vornamen, machten wir mal einen Ausflug mit der Bahn zum Gelsenkirchener Zoo. Das war etwas ganz Besonderes. Mit der Bahn und dann noch in den Zoo, zu den wilden Tieren, die man nur mal im Zirkus gesehen hatte. Zoo und Zirkus sind ja gar nicht zu vergleichen. Auf der Rückfahrt im Zug waren wir übermütig und Gotthard, der alte Kommisskopp, rief uns mehrere Male in seiner oberschlesischen Mundart zur Ordnung.
Ich war eigentlich immer ein braver, stiller Junge. Im Zug war ich aber voll aufgedreht und Gotthard meinte: „Emming, Du stehst auf der Kippe! Komm her, du Kelle (Kerl)!“. Dabei fasste er mich unters Kinn und zog mich in die Höhe. Der G-G, der „Gotthardgriff“, war sehr schmerzhaft. Beim Runterlassen habe ich ihm aus Versehen, mit Absicht, feste vor das Schienbein getreten, was mir innerliche Genugtuung brachte und ihm sicher einen riesigen blauen Flecken.
Mit meinen Eltern fuhr ich mal mit dem Dampf-D-Zug, also einem „Schnellzug“, nach Garmisch-Partenkirchen. Das war eine andere Geschwindigkeit als mit dem Bummelzug. Da habe ich zum ersten Mal den Kölner Dom gesehen. Da lernte ich Schlaf- und Speisewagen kennen. Im Speisewagen aßen wir Hammelfleisch mit Salzkartoffeln und Bohnen. Als Nachtisch gab es Grießschnitten mit Himbeersirup – köstlich, köstlich. Wenn ich irgendwo in einem Restaurant bin und da steht Hammelfleisch auf der Karte, bestelle ich das. Ich weiß nicht, was die Leute gegen Hammelfleisch haben.
Als Fahrschüler fuhr ich mit einigen anderen Borkenern zwei Jahre mit der Bahn nach Gladbeck zu Handelsschule.
Auch die Werbung profitierte vom Schicksal eines Bahnreisenden …
Da musste man sich am frühen Morgen, obwohl der Zug erst in Borken eingesetzt wurde, einen Sitzplatz erkämpfen. Wehe, man setzte sich auf den Stammplatz eines Pendlers. Von einem habe ich mal eine Ohrfeige bekommen, weil ich ihm „seinen“ Platz nicht frei machen wollte. Wenn ich daran denke, fühle ich auch heute noch mein Ohr brennen. Im Zug machten wir Schularbeiten. Das Gewackele und Stoßen glichen wir aus, da hatten wir keine Probleme mit.
Als wir uns mit der Strecke auskannten, sind wir morgens manchmal zweimal umgestiegen, in Dorsten und in Feldhausen. In Feldhausen sind wir dann in den Wald gegangen und haben dort Blödsinn gemacht. Laut Monatskarte mussten wir in Gladbeck-Ost aussteigen. Durch die Umsteigerei konnten wir nach Gladbeck-West fahren. Das war nicht erlaubt, aber näher an der Handelsschule. Auf dem Rückweg stiegen wir schon mal in Hervest-Dorsten aus und gingen auf den unteren Teil des Bahnhofs und in die noch tiefer liegenden Katakomben des Bahnhofs. Da waren im zweiten Weltkrieg die Schutzräume. Dabei sind wir erwischt worden und bekamen eine Eintragung in das Ordnungsbuch – bei drei Eintragungen Monatskarte futsch.
Während der Zeit als Fahrschüler bekam die Bahn neue, modernere Waggons. Die alten Waggons 3. Klasse mit Holzbänken wurden nach und nach ausgemustert. Die neuen Waggons hatten keine Einzelabteile, die dritte Klasse war gepolstert und man konnte von einem Wagen in den anderen gehen.
Wir benutzten aber gern noch die alten Waggons, die hinten angehängt waren. Wir hatten alle einen Schraubenzieher dabei und gebrauchten diesen, um der Bahn ungestört beim Abwracken zu helfen. Alles, was nicht niet- und nagelfest war, ließen wir durch die Toilette oder durch ein Abteilfenster verschwinden. Nur die Werbeschilder nicht, die sammelten wir.
In unserem Klassenraum hatten die Neuapostolischen an den Sonntagen Versammlung. Sie ließen schon mal kleine Informationszettel mit Bibelsprüchen unter unseren Bänken liegen. Die haben wir gern mitgenommen und diese dann während der Fahrt zwischen Deuten und Rhade durch die Toilette nach draußen befördert. Eine weiße Wolke von Bibelsprüchen begleitete den Zug. Die Kühe galoppierten erschrocken über die Weiden. Der Schaffner hing hinten aus dem Zug, um zu ergründen, woher die Wolke kam. Das konnte er aber nicht. Als wir in Rhade waren, kam er in unser Abteil und fragte uns, ob wir die Flatterzettel auch gesehen hätten. Wir sagten, wir haben sie auch gesehen und gerätselt, wo sie wohl herkämen.
Sicher haben wir noch mehr Unfug getrieben. Nun ja, wir waren ja die Fahrschüler, der Schrecken der Bundesbahner.
Ich fahre immer wieder gern mit der Bahn. Das ist erholsam und stressfrei, vorausgesetzt, dass sie nicht ausfällt.
Heinz Eming (2021)
So sahen die Dampfloks und die Waggons der 1., 2. oder 3. Klasse aus. In der 3. Klasse gab es einfache Holzbänke, das war die „Holzklasse“ …