Helene Kruse
Eine Lehrerin aus Borken, eine Lehrerin in Borken
Eine Lehrerin aus Borken, eine Lehrerin in Borken
Helena Franziska Kruse wurde am 16. Juni 1881 in Borken geboren. Sie war das jüngste von vier Kindern der Franziska Depenbrock und des Lehrers Bernard Kruse, der seit 1874 in Borken unterrichtete und 1901 zum Hauptlehrer ernannt wurde. Sieben Jahre später schied er aus dem Schuldienst, vom Schulträger und seinen ehemaligen Schülern mit einem Fackelzug und einer abendlicher Feier verabschiedet, zudem vom preußischen König mit dem Kronenorden IV. Klasse ausgezeichnet.
Helenes Leistungen als Volksschülerin ließen erwarten, dass die Lehrerstochter selbst Lehrerin werden könnte. Darum besuchte sie, ausgestattet mit der Empfehlung ihrer Lehrerin, zunächst eine zweijährige Präparandie (1895-1897), wo der Lernstoff der Volksschule nochmals gründlich durchgearbeitet und erweitert wurde. So vorbereitet meldete sie sich für die Aufnahmeprüfung am katholischen Lehrerinnenseminar in Münster. Sie bestand, und ebenfalls bestand sie drei Jahre später die Lehrerinnenprüfung. Ihre erste Anstellung erhielt sie in Herten, von wo sie als inzwischen voll ausgebildete und fest angestellte Lehrerin 1908 an die Volksschule in Borken wechselte. Für wenige Monate erlebte sie ihren Vater noch als Schulleiter.
Vom Elternhaus und von der Ausbildung im Lehrerinnenseminar her katholisch geprägt, übernahm Helene Kruse in den 1920er Jahren vor Ort den Vorsitz des Vereins deutscher katholischer Lehrerinnen (VdkL), dem nahezu alle in Borken tätigen Lehrerinnen angehörten.
Die Ziele des Vereins blieben für sie auch dann noch erstrebens- und lebenswert, als von 1933 an die Konkurrenz des NS-Lehrerbundes (NSLB) und sein Alleinvertretungsanspruch immer stärker wurden. Anfangs mag auch sie ihm unter dem allgemeinen Druck und in Folge eines bischöflichen Hirtenwortes vom Mai 1933 selbst angehört haben, ohne aus dem VdkL auszutreten. Doch „hielt sie dessen Fahne“ auch weiterhin hoch, vor allem von dem Zeitpunkt eines drohenden Verbotes seiner schul- und berufspolitischen Tätigkeit an. Das trat denn auch in den Jahren 1935 und 1936 ein, bevor 1937 die Auflösung folgte samt der Beschlagnahme von Eigentum und Vermögen.
75 bis 78 Prozent der Mitglieder ließen sich damals deutschlandweit aus dem NSLB ausschließen und blieben im VkdL, wie es auf dessen aktueller Internetseite heißt. Sie setzten seine religiös-berufsethische Fortbildungsarbeit unter dem Schutz des Reichskonkordats fort und leisteten so geistigen Widerstand. Schikanen, Verhöre, Strafversetzungen und Inhaftierungen wegen politischer Unzuverlässigkeit waren die Folge.
Helene Kruse gehörte dazu und kam mit der Versetzung noch glimpflich davon, bestand doch durch das ab dem 7. April 1933 in Kraft getretene „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ die Möglichkeit einer sofortigen Dienstentlassung, sofern der Anschein bestand, dass die politische Gesinnung auf mangelnde Loyalität gegenüber dem neuen Staat schließen ließ.
Die Borkener Zeitung, die ansonsten mit Hintergründen nicht hinterm Berg hielt, brachte über die Versetzung in ihrer Ausgabe vom 17. November 1935 lediglich eine viereinhalb Zeilen umfassende Meldung: „Schulpersonalie. Die Lehrerin Fräulein Helene Kruse, die seit 35 Jahren im Schuldienst, davon etwa 28 Jahre in ihrer Vaterstadt Borken tätig war, ist mit Wirkung vom 1. Januar 1936 an die Schule in Metelen (Kreis Steinfurt) versetzt worden.“ Im Gegenzug musste die Lehrerin Toni Sengen nach Borken wechseln.
In Metelen lebte Helene Kruse zehn Jahre lang, zeitweise in Wohngemeinschaft mit ihrem Bruder Heinrich, der geistlicher Direktor von Haus Hall in Gescher war, und „Tante Mia“, wie die Großnichten und Großneffen in Borken ihre Haushälterin nannten. Zu Besuchen in Metelen und Gegenbesuchen in der Heimat wird man mit der Westfälischen Landeseisenbahn gefahren sein, die damals am Borkener „Nordbahnhof“ startete und ihren 46 Kilometer langen Weg über Stadtlohn, Ahaus, Nienborg-Heek nach Metelen-Dorf nahm.
Zum 1. Februar 1945 wurde Helene Kruse pensioniert. Ob sie die Zerstörung ihres Elternhauses in der Vennestraße und den Bombentod ihres Schwagers Gerhard Meiners vor Ort miterlebte, ist nicht bekannt. Nach dem Krieg jedenfalls fand sie ein neues Zuhause bei ihrer Nichte Cilly Meiners, geb. Kruse, und deren Familie in Grütlohn, Marbecker Straße 2. Den drei Töchtern war sie eine liebevolle, manchmal auch strenge Großtante, ihren ehemaligen Schülerinnen und Kolleginnen sowie den Pfarrgeistlichen eine freundliche Gastgeberin und Gesprächspartnerin, für die der allmorgendliche Fußweg zur Kirche bis ins hohe Alter selbstverständlich war. Sie starb am 3. Januar 1972 im Kreise ihrer Verwandten.
Helene Kruse erlebte in 90 Jahren vier politische Systeme: das Kaiserreich und dessen Untergang am Ende des Ersten Weltkrieges, die Weimarer Republik mit ihren politisch unruhigen und wirtschaftlich schwierigen Zeiten, das „Dritte Reich“ und dessen totalitären Machtapparat, den sie durch ihre Strafversetzung hautnah zu spüren bekam, sowie den Neuanfang nach 1945 mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland. In den ersten drei Zeitabschnitten unterrichtete sie unter jeweils anderen pädagogischen Vorgaben als Lehrerin, im letzten konnte sie viele Jahre ihre Pension „genießen“. Vielleicht war dies eine Form der Entschädigung für die Gehaltseinbußen, die den Lehrerinnen und Lehrern schon in den frühen 1930er Jahren im Rahmen von Notverordnungen abverlangt wurden, und für die Strafversetzung nach Metelen.
Rudolf Koormann, Januar 2022
Helene Kruse (um 1926).
(Foto: Privat)
Helene Kruse (um 1960).
(Foto: Privat)
Anmerkung:
Laut Taufbuch der kath. Kirchengemeinde St. Remigius wurde Helene Kruse am 16. Juni 1881 „abends acht Uhr“ geboren und am 19. Juni getauft. Ihre Taufpaten waren Helena Kruse und Heinrich Depenbrock.
Vennestraße: Das zweite Haus auf der rechten Seite war Helene Kruses Geburts- und Wohnhaus.
(Foto: Stadtarchiv Borken)
Vennestraße: Nichts blieb von Kruses Haus als ein Schutthaufen. Eine Bombe tötete auch Helene Kruses Schwager Gerhard Meiners und dessen Schwiegertochter.
(Foto: Foto Schmitz)