Als ich 8 Jahre alt war
Wie war es „früher“ im „alten“ Borken? Vorab gefragt: Wann war denn „früher“? Für mich fängt „früher“ mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges an. Davon will ich aber nicht erzählen. Ich bin nämlich gefragt worden: Wie war es in der Fastenzeit, wie war es mit dem Fasten?
Was soll ich da erzählen, wo fange ich an? – Am besten fange ich an mit dem Beginn der Fastenzeit, mit dem Aschermittwoch. Morgens nach der Schulmesse bekamen wir das Aschenkreuz auf die Stirn. Es war wichtig, dass die Stirn frei war. Bei dem damaligen „Pisspottrundschnitt“ war dieses leicht. Da ich nicht so einen radikalen Haarschnitt hatte, bekam ich eine Portion Asche zusätzlich auf mein lockiges Haupt. Gott sei Dank konnte ich nach Schulschluss zuhause noch Reste des Aschenkreuzes vorweisen, womit ich beweisen konnte, dass ich an der Zeremonie teilgenommen hatte. In den ersten Schuljahren wurde das aber noch nicht kontrolliert.
Wie ging das Fasten vor sich, was ist Fasten? Man musste auf etwas verzichten. Die Frauen verzichteten auf den Bohnenkaffee, die Männer entsagten dem Alkohol oder dem Tabak in jedweder Form, oder sie versprachen ihren Frauen, sonntags pünktlich zum Mittagsessen vom Frühschoppen zuhause zu sein. Man unterließ auch das Fluchen. Wer kein Laster hatte, hatte es natürlich mit dem Fasten besonders schwer. Man konnte am Stammtisch nicht mithalten, wenn einer sagte: „Ik schmöök nich mehr“, oder ein anderer „Nemm dat Schnäpsken wehr met, breng mij ’n Düsterbier (Dunkelbier)“
Uns Kindern fiel das Fasten sehr schwer. Die wenigen Süßigkeiten, die wir bekamen, kamen in ein Marmeladenglas mit Deckel. Im Laufe der Fastenzeit entstand eine bunte Mischung aus roten Himbeerbonbons, gelben Zitronenbonbons, grünen Hustenbonbons, schwarzen Lakritzschnecken und Nappo in bedrucktem Silberpapier. Daraus entwickelt sich eine marmorierte Masse, die dem Enthaltsamen verführerisch ins Auge stach.
Nach der Hälfte der Fastenzeit war ich der Meinung, dass ein guter Fastender, der das Marmeladenglas schon über die Hälfte gefüllt hatte, eine Belohnung verdient. Ich versuchte mit einem Suppenlöffelstiel einen Brocken aus dem Glas herauszubrechen. Das gelang mir aber nicht. Nur der Löffelstiel wurde krumm. Mit Mühe und Not konnte ich den krummen Löffelstiel wieder einigermaßen zurecht biegen. Bei der abendlichen Milchsuppe lag der besagte Löffel neben meinem Suppenteller … Gesprochen wurde über mein „Fastenbrechen“ nicht.
Im Unterricht „Biblische Geschichte“ erklärte uns der Lehrer, dass die Fastenzeit 40 Tage dauere, weil Jesus in die Wüste gegangen sei und dort 40 Tage gefastet habe. Meine Frage an den Lehrer, ob wir denn überhaupt ohne Wüste fasten müssten und dieses im Himmel anerkannt würde, wurde mit einer Ohrfeige beantwortet.
Ich hatte das Gefühl, die Fastenzeit würde nie enden. Palmsonntag wusste man, dass in einer Woche Ostern und die Fastenzeit zu Ende war. Der Lehrer erzählte uns, dass die Glocken nach Rom fliegen würden. Da die kleinen Glocken der Messdiener auch verschwunden waren, sagt ich dem Lehrer, dass diese nur bis Münster flögen, da sie für diese lange Strecke bis Rom nicht genug Kraft hätten. Durch diese nicht abwegige Bemerkung handelte ich mir wieder eine Ohrfeige ein. Ich hielt dem Lehrer, so wie es in der Bibel steht, dafür die andere Wange hin.
Palmsonntag wurde immergrüner Buchsbaum (Palm) und die Palmstöcke mangels Palmwedel nach der Messe gesegnet. Gott sei Dank werden wieder Palmstöcke gebastelt. Auf dem Bild seht ihr meine Frau mit einem von ihrem Opa hergestellten Palmstock. Die Palmsträucher und die Palmstöcke erinnern an den Einzug von Jesus in Jerusalem. Der gesegnete Palm wurde und wird auch heute noch in den Häusern hinter ein Kruzifix gesteckt und beschützt Haus und Bewohner.
Karfreitag war und ist für die Katholiken hier in Nordrhein-Westfalen kein kirchlicher Feiertag. Für unsere protestantischen Mitbürger war und ist es der höchste Feiertag des Jahres. Die Katholiken durften arbeiten. Ich durfte den Keller witteln, mit weißer Farbe und dem Wittelsquast anstreichen. Die Bauern wittelten die Ställe, machten also Innenarbeiten. Unchristliche Katholiken ärgerten ihre christlichen protestantischen Brüder mit Gülle ausbringen.
Karfreitag wurde die Kleidung gewechselt. Die Winterkleidung wurde weggehängt und weggepackt uud gegen die Sommerkleidung getauscht: endlich wieder kurze Hose und Kniestrümpfe.
Karfreitag musste man mit der Karfreitagsprozession gehen. Die Strecke ging von der Remigiuskirche, Schatens Kreuz (Schatens Krüüs), Raesfelder Straße rechts ab in den Alten Kreuzweg, Weseler Landstraße überqueren, Zwei-Linden-Weg, rechts ab Bocholter Straße, in die Stadt rein, Ende an der Remigiuskirche. Es wurden der Rosenkranz und der Kreuzweg gebetet.
Mein Gott, was war das ein langer Weg. Wenn gutes Wetter war und die Sonne schien, mussten wir schwitzen, wenn kaltes Wetter war, manchmal schneite es sogar, mussten wir Jungs in unseren kurzen Hosen und Kniestrümpfen frieren. Aufrecht hielt mich aber der Gedanke an das Mittagessen. Da gab es Karfreitagspüfferkes.
Professor Walters schrieb darüber (auf Plattdeutsch):
Karfreitag gab es etwas, das bekam man nur einmal im Jahr, das waren die Püfferkes (auch „Aollikrappen“ genannt). Es mag hier und da noch eine alt eingesessene, deftige Bürgerfamilie geben, die noch weiß, wie das leckere Zeug gebacken wird. Es gibt aber auch wohl kein anderes Essen, was nur an einem einzigen Tag im Jahr auf den Tisch kommt.
Vor den Püfferkes gab es Kannepapp met Prumen, Buttermilchsuppe mit Pflaumen. Die Rezepte könnt ihr von mir bekommen.
Selbst die Angst vor dem Fegefeuer konnte mich nicht von der Unmäßigkeit abhalten. Mutter war froh, dass es uns schmeckte und sagte nur: „Lasst noch welche für heute Nachmittag und heute Abend übrig, die schmecken auch noch kalt.“
Jetzt seid ihr dran!
Heinz Eming (2021)
(C) Heinz Eming
„Schatens Krüüs” (Ecke Raesfelder Str./Siegenweg)
aus: Wochenblatt, Münster