Die Kinder vom Dülmener Weg
Ein alter Borkener erzählt aus seiner Kindheit
Ein alter Borkener erzählt aus seiner Kindheit
Für die, die mich noch nicht kennen, muss ich mich erst mal bekannt machen
Ich wohnte früher am Dülmener Weg „vor dem ersten Bahnübergang“. Diesen Zusatz erwähnte man, wenn man gefragt wurde, wo man wohnte. Hinter dem ersten Bahnübergang fing, so sagte man damals, „Klein-Moskau“ an. Die Gegend hatte damals nicht den besten Ruf. Eigentlich hat man den Bewohnern damit Unrecht getan. Mit ganz wenigen Ausnahmen lebten hier ordentliche Bürger. Wenn in der Stadt eingebrochen worden war, stand schon mal in der Zeitung: Die Spuren führten an der Wasserstiege vorbei bis zum Dülmener Weg hinter dem ersten Bahnübergang.
Wenn ich gefragt wurde: „Wie heißt du?“, dann sagte ich: „Heinz Eming“. Wenn man mich fragte: „Was macht denn dein Vater?“, dann sagte ich: „Regina“. Jetzt wisst ihr, wer ich bin.
Ich muß natürlich sagen, ich war nicht das einzige Kind am Dülmener Weg; Kinder gab es damals eine ganze Menge.
Beschreibung des Wohnumfelds
Der Dülmener Weg war noch ein Sandweg. Das Gebiet zwischen dem Grünweg hinter den Häusern am Dülmener Weg bis ungefähr zum Bahnübergang und den Häusern an der Heidener Straße war noch nicht bebaut. Hinter den Schienen zwischen Bahnübergang Dülmener Weg und Bahnübergang Heidener Straße lag das Pingelbüschken. Das hatte den Namen von dem Pingeln der Dampflokomotiven, die über die dort abzweigende Strecke nach Münster fuhren. Zu unserem Revier gehörten auch das Gebiet an der Wasserstiege und der Bahnweg mit dem Sandberg mit den darauf stehenden Klettereichen. Wenn es nötig war, wurde das Umfeld erweitert.
Nutzung der sich für uns Kinder ergebenden Möglichkeiten
Es fuhren damals sehr wenige Autos über den Dülmener Weg. Pferdefuhrwerke kamen ab und zu. Wenn die irgendwo haltmachten, war es eine Mutprobe, unter dem Pferd durchzukriechen. Im Sommer spielte man Völkerball und im Winter machte man Schlinderbahnen auf der Straße. Auf dem Bürgersteig spielte man Iskadopp, Haudopp und Pinnekeskloppen. Hasselband driewen war sehr beliebt.
Wenn im Sommer der Roggen hoch stand, konnte man sich zwischen den Roggenhalmen wunderbar verstecken. Wenn der Roggen gemäht war, liefen wir barfuß über die Stoppelfelder.
Nach dem Kartoffelaufsuchen machten wir ein Feuer mit dem trockenen Kartoffelstroh und brieten Kartoffeln in der glühenden Asche. Die schmeckten am besten, wenn sie außen verkohlt waren. Wir verbrannten uns regelmäßig den Mund.
Auf einem freien Feld an der Wasserstiege wurde Fußball gekloppt. Ab und zu spielte Dülmener Weg gegen Heidener Straße Die Pöhlerei endete regel mäßig mit einer Klopperei.
An der Wasserstiege und auf dem Sandberg gegenüber dem Stellwerk kletterte ich gern in den Eichen. Oben in den Eichen am Sandberg hatte man eine herrliche Aussicht über die Wiesen auf die Stadt. Am Bahndamm wurden Büdekes gebaut. In den Büdekes wurde heimlich Kamilletee in Stutenkerlpfeifen geraucht. Auf der Wasserstiege ließ man selbstgeschnitzte Schiffchen aus Rinde schwimmen. In der Wasserstiege wurden Stichlinge gefangen und zuhause mit Grünzeug aus der Wasserstiege in ein Einmachglas gesetzt. Dort haben sie wegen Sauerstoffmangels nicht lange gelebt. Im Sommer war es erfrischend, barfuß durch die Wasserstiege zu laufen. Wer mutig war, kroch bei Milch-Kuhmann durch das dunkle, modrige Rohr, durch das die Wasserstiege floss.
Über den Grünweg, vorbei an Oppa Melz’ Hühnerschöppken und Pietes Bau ging es über die Bahngleise ins Pingelbüschken, um zu ströpen. Das heißt: um dort durch die Büsche zu schleichen. Dafür braucht man einen Stock. Um den Stock zu schneiden und ihn zu verzieren, brauchte man ein Taschenmesser. Wichtig war auch ein Flitzebogen für die Karnickeljagd. Den fertigte man in der Zeit, wo das Riet hart genug für die Pfeile war. Wir holten das Riet am Bahnübergang an dem Bach zwischen Borken und Marbeck. Der Haselnussstock mußte gleichmäßig dick sein. Damals gab es noch Wallhecken am Ramsdorfer Postweg. Da standen die drin. Mit einem Packtau wurde der Bogen gespannt. Auf die Pfeile steckten wir kurze Stückchen vom Holunder, mit dem Gewicht vorne auf dem Pfeil flogen diese geradeaus, meistens.
Jetzt habt ihr das Umfeld und die sich daraus ergebenden Möglichkeiten kennengelernt, aber noch nicht „Räuber und Gendarm“ spielen. Das lief jedesmal darauf hinaus, dass die Älteren die Räuber waren und die Jüngeren dann die Gendarmen waren, die die Räuber fangen mussten. Da sich die Räuber nie an die vereinbarten Grenzen hielten und die Gendarmen das wussten, sind die Gendarmen nie losgezogen, um die Räuber zu fangen. Was die Räuber in der Zeit, bis sie zurückkamen, gemacht haben, habe ich erst erfahren, als ich älter wurde und zu den Räubern gehörte.
Nun wird mancher Junge aus der damaligen Zeit sagen: Wir haben doch noch viel mehr gemacht, wir haben doch auch Eidechsen am Bahndamm gefangen. Und die Mädchen vom Dülmener Weg werden sagen: Von uns, von dem, was wir gemacht haben in dieser Zeit, hast du nichts erzählt. Stimmt, vielleicht findet sich eine weibliche Person aus der damaligen Zeit, um meinen Bericht zu ergänzen.
Heinz Eming, im April 2020
Kinderschützenfest 1948 am Dülmener Weg.
Die Maitremse wurde in den 1960er Jahren auch am Dülmener (Sand-)Weg aufgehängt.
(Fotos: H. Eming)